4. Im Unterschied zu Freud geht Marcuse davon aus, dass ein solcherart befreiter Eros nicht zum Untergang der Kultur führen würde, im Gegenteil: ‚ÄûDie Befreiung des Eros könnte neue, dauerhafte Werkbeziehungen schaffen.„ Es käme zu einer Selbst-Sublimierung der Sexualität, die kultiviertere Beziehungen der Individuen untereinander ermöglichen würde. Marcuse geht von einer dem Eros innewohnenden libidinösen Moral aus, die nach der Abschaffung der zusätzlichen Unterdrückung und der damit verbundenen Herrschaftsformen zur Ausprägung einer befreiten Gesellschaft führen könnte. Arbeit könnte dank der freigewordenen zeitlichen Ressourcen und der gesteigerten Möglichkeiten freier Wahl den Charakter des Spiels annehmen. Antizipiert sieht Marcuse diese Entwicklungsmöglichkeiten in der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit, in der Kunst. Diese entspringt der Phantasie, die sich als einzige Form des Denkens von der Herrschaft des Realitätsprinzips freigehalten hat. In der Kunst sieht Marcuse eine Form menschlicher Arbeit verwirklicht, die weitgehend ohne Triebunterdrückung vor sich geht und ein hohes Maß an libidinöser Befriedigung bietet, ohne destruktiv zu sein. Im Kunstschaffen und in der Kunstrezeption kommt es zu einer wenigstens zeitweiligen Befreiung des Eros. So kann die ästhetische Erfahrung als Modell einer von repressiven Strukturen befreiten Welterfahrung dienen. In einer befreiten Gesellschaft würde das Lustprinzip als Realitätsprinzip eingesetzt, ohne die Kultur zu zerstören.